Seewann, Gerhard–Krauss, Karl-Peter–Spannenberger, Norbert (Hgg.): Die Ansiedlung der Deutschen in Ungarn. Beiträge zum Neuaufbau des Königreiches nach der Türkenzeit
München: Oldenbourg 2010, 233 p. /Buchreihe der Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa, Band 40./ ISBN 978-3-486-59750-9
Der hier in Annotation angezeigte Band gehört in eine ganze Reihe von veritablen Veröffentlichungen des Jahres 2010, welche die im Titel genannte Thematik wieder in den Blick genommen haben. Man gewinnt den positiven Eindruck, dass in Richtung auf das Kulturhauptstadtjahr der Stadt Pécs zahlreich neue Arbeiten stimuliert worden sind, die in vergleichenden Analyseansätzen die Problemstellungen von Immigration und Neubesiedlung im Karpatenbecken nach den großen Kriegsereignissen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts untersuchen. Der hier in Rede stehende Band verfolgt insgesamt eine klar dominierend wirtschaftshistorische Untersuchungsperspektive. Werbung und Ansiedlung der Deutschen im Reich der Stephanskrone sei in erster Linie aus ökonomischen Erwägungen heraus erfolgt, schreibt Gerhard Seewann in seinem instruktiven Vorwort (S. 1–3).
Aber auch volkskundlich-kulturanthropologische Fragen und Aspekte werden berücksichtigt, so insbesondere in den Beiträgen von Gábor Barna, Zoltán Gőzsy und Karl-Peter Krauss.
Barna behandelt die katholischen Wallfahrten und ihre interethnische Komponente im Königreich Ungarn im 18. Jahrhundert (S. 211–218). Der Mitverfasser des großen Standardwerkes über die ungarischen Wallfahrtsorte20 summiert hier in deutscher Sprache, wie sich über gemeinsames Wallfahrtswesen kulturelle Angleichungsprozesse vollziehen konnten. Als bedeutend bildete sich die übergreifende Ausstrahlungsfähigkeit von Mariazell, und davon abgeleitet, die Mariahilf-Darstellung der Passauer Klosterkirche heraus (S. 213–214). Innerhalb der Regionen entstanden auch Wallfahrtsstätten mit „ethnischer Abgrenzung und lokaler Gemeinschaftsbildung“ (S. 215, deutsche Gründungen des 18. Jahrhunderts). Aussagekräftige Quellen, in denen sich dies niederschlägt, bilden die Mirakelbücher. Wallfahrtsveranstaltungen haben gleichfalls mit „symbolischer Inbesitznahme der Landschaft“ zu tun (S. 212–213). Inwieweit die Wallfahrtsstätten und Wallfahrtswege als Neuprägung der Landschaften und Territorien gedacht und interpretiert werden können, wie dies bei den zahlreichen, im späteren 18. Jahrhundert erbauten Kalvarienanlagen ohne Zweifel auch der Fall war, ist eine anregende Frage, die zum Weiterarbeiten anregt. Das auf S. 217 erwähnte Phänomen der „Wallfahrtstaufen“ (im deutschsprachigen Diskurs weniger bekannt, indessen in o. g. ungarischem Standardwerk von Sándor Bálint und Gábor Barna bereits etwas ausführlicher dargestellt), scheint m. E. von besonderer Relevanz zu sein. Besonders aufschlussreich wirken die Konstatierungen, dass sich, nach schweren Jahren ökonomischer Konsolidierung und dem Abschluss der Verwaltungsorganisation, diese religiöse Prägung und Durchdringung der Landschaft durch neue oder revitalisierte Sakralarchitektur und Prozessionen eben erst ausgangs des 18. Jahrhunderts merklich-sichtbar vollziehen konnte (s. S. 211).
Der Historiker Zoltán Gőzsy stellt uns die „Canonicae Visitationes“ als Quelle zur Eingliederung der Kolonisten in der Diözese Pécs/ Fünfkirchen“ vor (S. 195–210). Die hier herangezogenen Visitationsberichte – eben keine normative Quelle, sondern protokollierte Aufsichtsbegehungen – geben wertvolle Aufschlüsse zur dörflichen Sozialordnung und Lebensweise im 18. Jahrhundert (Schwerpunkt ist ein Bestand aus dem Jahr 1729, also kurz nach der ersten systematisch organisierten Anwerbungswelle). Volkskundlich interessant sind insbesondere die Ausführungen zur Stellung der Lehrer und auch der Hebammen (S. 206–207, 209). In den dokumentierten Pfarreien ergeben sich Hinweise über die Pfarrer in weltlichen Angelegenheiten – sie treten etwa als Treuhänder und Kreditgeber auf (S. 204–205). Kirchengebäude wurden zunächst, seit den 1720er Jahren, aus Holz gebaut. In der der Predigtvermittlung mussten zudem Lösungen in den verschiedenen Sprachen gefunden werden (in der Regel ungarisch, kroatisch und deutsch, s. S. 201–203).
Dasselbe Anliegen der Predigtvermittlung behandelt Zoltán Csepregi in seinem Text Pietismus in Ungarn und das Luthertum in der Tolnau (S. 173–194) – dies am Beispiel evangelischer Kolonistenprediger in Transdanubien 1718–1775. Auch diese Geistlichen hatten nach eigenen Zeugnis ihr Amt oft in drei Sprachen – deutsch, ungarisch, slowakisch – zu verrichten (s. S. 179–180). Im Beitrag spielt jedoch inhaltlich weniger die Alltagsordnung in gemischtsprachigen und gemischtethnischen Gemeinden eine Rolle, sondern vielmehr der vollständige Aufweise der Personen mit Namen und, wenn möglich, deren Herkunft und beruflicher Werdegang: Viele hatten zunächst in Halle/ Saale bei Francke studiert und betrachteten dann ihre Wanderschaft, so Csepregi, als „Aussendung“ bzw. „Mission“ (S. 183–184).
Linguistische Problemstellungen in Bezug auf die Entwicklung der deutschen Dialekte überblickt Katharina Wild: Die Sprachentwicklungsprozesse in den donauschwäbischen Dialekten von der Ansiedlungszeit bis zur Gegenwart (s. S. 219–232) haben zur Mischung (hervorgerufen auch durch Binnenwanderung) und zum Ausgleich der einzelnen Varietäten im Lauf der Zeit zu relativ einheitlichen Ortsdialekten geführt.
Unter den wirtschaftsgeschichtlich orientierten Texten ist der Beitrag von Karl-Peter Krauss volkskundlich besonders lesenswert, der den alten Satz über die Immigranten, Mit einem Bündel sind sie gekommen? in Frage stellt. Er schreibt über Geldtransfers aus dem Deutschen Reich nach Ungarn im 18. und 19. Jahrhundert (S. 125–172, mit zahlreichen Quellenauszügen). Das batyu ist ja bekanntermaßen auch zum Symbol der systematischen Aussiedlung nach dem II. Weltkrieg geworden. Hier aber besteht das interessante gerade darin, dass der Beitrag mit zahlreichen hausgewerbebezogenen, lokal- und familiengeschichtlichen Quellenstellen aufwarten kann, die die alltäglichen Lebensbedingungen von Menschen anschaulich zu machen imstande sind: Die reale Praxis von Emigration und Immigration spiegelt sich hier, der Volkskundler Hans Moser hätte an dieser Arbeitsweise seine Freude daran gehabt. Es gereicht der Studie zum unschätzbaren Vorteil, dass Verfasser sich offensichtlich sowohl in württembergischen wie auch in ungarischen und den Wiener Archiven auskennt.
Makrohistorisch und generalisierend Hingegen betrachtet György Kurucz Agrarwirtschaft und Kolonisation in Ungarn im 18. Jahrhundert aufgrund des ungarischen Forschungsstandes (S. 81–100). Der Regenerierungsprozess der Nutzflächen, die unterschiedlichen Interessen zwischen der Weidewirtschaft der Serben und rural-feldökonomischen sowie handwerklichen Schwerpunkte der Zuwanderer aus den Territorien des „Alten Reiches“, schließlich die Schwierigkeiten bei der zentralistischen Steuererhebung werden hier thematisiert.
Die frühe Ansiedlungspolitik aus habsburgischer Perspektive behandelt der Beitrag ’Welche sich in Ungarn …häuslich niderzulassen Lust und Sinn haben …’. Der habsburgische Staat als Akteur der Ansiedlung in Ungarn von Karl VI. bis Maria Theresia“ von Ernst-Dieter Petritsch (S. 41–60). Der Historiker aus dem Staatsarchiv Wien macht die Dimensionen klar und macht noch einmal darauf aufmerksam, weshalb man die Deutschen zum „wanderfreudigsten aller europäischen Völker“ im 18. Jahrhundert erklären kann. Von der volkswirtschaftlichen Sicht her beleuchtet Zoltán Kaposis Beitrag Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Ansiedlung in Ungarn die Situation im ganzen 18. Jahrhundert (S. 101–123). Hier findet man auch Angaben zur Entwicklung der Demographie, die sich sowohl durch einen starken Anstieg der Bevölkerungszahl wie auch durch eine starke Mortalitätsrate (durch Seuchen und Krankheiten) auszeichnete. Aufgrund der Zuwanderung vor allem von Rumänen, Serben, Slowaken, Deutschen (u. a.) belief sich dann bis ausgangs des 18. Jahrhunderts der Anteil der Ungarn im Reich der Stephanskrone auf 40 % (S. 102–103).
Márta Fata umreißt unter dem Obertitel Migration als Modernisierungsfaktor? einige Ursachen der deutschen Einwanderung in Ungarn zur Regierungszeit Josephs II. 1783–1789 (S. 61–79). Es geht hier insbesondere um die Nutzung der riesigen Flächen des Urbariallandes der Jesuiten, das nach der Aufhebung des Ordens staatlich eingezogen und vornehmlich an deutsche Einwanderer vergeben worden war. Dieser Versuch der Umsetzung josephinischer Agrarreformen lässt sich m. E. im weiteren Sinne als chronologische Vor- sowie Komplementärstudie zu Problemen der Imperienbildung des 19. Jahrhunderts lesen (man denke etwa nur an die neuen Publikationen aus dem Umkreis des universal angelegten, politikhistorischen FRIAS-Projektes „Empires und Nationalstaaten/ Comparing Empires“).
Resümierend und programmatisch zugleich ist der umfangreiche Aufsatzbeitrag Interpretationen der Ansiedlungspolitik des 18. Jahrhunderts in der österreichischen und ungarischen Historiographie von Norbert Spannenberger, der den Band eröffnet hat (S. 5–40). Die so wichtige Vergleichs- und Erörterungsperspektive wurde damit aufgemacht: In beiden Diskursen scheinen je unterschiedliche Bewertungen auf, die uns zum Erkenntnisgewinn – oder soll man sagen: zur Erkennntnis-Synthese? – in gegenseitiger Kontrastierung verhelfen.