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Vom Triglav bis zum Ararat: Symbolische Kristallisationsphänomene der Naturwelt in ehemaligen Siedlungsregionen mit Deutschen im östlichen Europa

Die vom Unterzeichnenden konzipierte Tagung fand vom 13.–15. Juni 2012 im Johannes-Künzig-Institut in Freiburg i. Br. statt.
Dasjenige Naturwahrzeichen, das am Beginn des Programms behandelt wurde, war das Triglav-Naturschutzgebiet in Slowenien. Es weist drei Eigenschaften auf: Es ist (a) ein Wahrzeichen des Landes, (b) ist als reserviertes, menschlich kulturell als Möglichkeit ge­schaffenes Naturerlebnis eingerichtet (als geschützter und erhabener „Park“) und war (c) der Titelgeber einer interkulturellen Zeitschrift des 19. Jahrhunderts, um das slowenische und das deutsche Kulturelement unter sich zu vereinigen, sozusagen zu vergemeinsamen.
Eine der ersten deutschsprachigen Volkskunden überhaupt hat sich ja mit der zugehörigen Region Krajnska Gora befasst, noch ohne den Namen des Berges Triglav stark hervorzuheben: Die Schrift des Ethnographen und Geographen Johann/ Janez von Valvasor, die „Die Ehre Deß Herzogthums Crain“ heißt, 1689 erschienen, charakterisiert die Alpen noch als „unzugängliche Bergwelt“, markiert jedoch zugleich, sehr plastisch ausgeschildert, zwei Spannungs-Pole der Tagungsprogrammatik: Furcht vor und in der Naturwelt und zugleich Faszination – Schrecken und zugleich Empfindungen an Schönheit von Naturphänomenen.
Am Beispiel Triglav ist bestens die „Wahrzeichen“-Funktion erkennbar, die dann aus Naturphänomenen entstehen kann, wenn Menschen ihnen sensitiv und emotional nicht gleich­gültig gegenüberstehen: Der Berg ist Bestandteil der slowenischen Nationalflagge, aber auch als Marken-Name in durchaus affektiv besetztem Gebrauch – etwa für eine Biermarke. Die Rezeption des Triglav-Berges, und im Übrigen auch die Artikel der Zeitschrift gleichen Namens, folgen beide gleichartigen Linien: Sentimentgeladene Einnahme in den Heimat-Begriff und ästhetisches Erlebnis wilder Natur in einem der ersten Nationalparke Europas. Sonja Riehn, Volkskundlerin aus Jena, widmete sich diesem Thema in ihrem aus einer Freiburger Examensarbeit hervorgegangenen Vortrag „Der Triglav: Berg – Welten – Bilder“.
Als ein weiterer zur kulturwissenschaftlichen Analyse interessanter Nationalpark bot sich der Nationalpark von Paklenica in Kroatien an. An diesem Beispiel konnten von Harald Stahl an der Tagung einige grundsätzliche Überlegungen angestellt werden. Paklenica wie auch der Natur-Park Triglav sind ja ohne Zweifel menschliche Einrichtungen, die einem kulturellen Anliegen nachkommen und entsprechen: Sie werden beworben, es werden Bildbände und Illustrierten gedruckt und von Reisebüros ihre farbreichen Digitalisate auf Webseiten gestellt, damit Menschen dorthin fahren. Hier sehen wir eines der beworbenen kulturellen Ziele, die damit verknüpft und an ihnen dargestellt werden, gerade auch, Valvasors Einlassungen modifizierend weitergedacht werden: Es besteht in der Kontemplation. Kontemplation als ein Zur-Ruhe-kommen, als ein Finden von kosmischem, über das Ich hinaus gehenden, bewussten Empfindungen, und damit zusammen einer eigenen Identität – das war ja im Grunde bereits Petrarcas Gedanke. Neben seinem berühmten und all-bekannte Satz zur Besteigung des Mont Ventoux-Besteigung äusserte der Humanist den vielleicht noch wichtigeren Bezug zu Augustinus‘ Confessiones und dessen Landschaftsbetrachtung: „Et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos.“ „Und die Menschen gehen hin, um die Höhen der Berge zu bewundern, und die gewaltigen Fluten des Meeres, das große und breite Dahingleiten der Flüsse – Und die Weite des Ozeans und die Reitbahnen der Gestirne und lassen darüber sich selbst zurück/ vergessen darüber sich selbst.“ Hier geht es um Kontemplation, Naturwahrnehmung wird zum ganz hervorragenden Mittel der Kontemplation. Die Aneignung einer – scheinbar – losgelassenen Natur zeigt sich heute in der Einrichtung von Naturschutzgebieten und in der „Veranstaltung von Wildnis“, so Harald Stahl, wie sie sich in den der wirtschaftlichen Nutzung entzogenen Natur-Reservaten darbietet.
Einen Gastbeitrag von einer anderen Disziplin brachte sehr dankenswert Werner Konold, der Freiburger Lehrstuhlleiter des Fachs „Landespflege“, ins Tagungsprogramm ein. Die Studien zur Landespflege an der Universität Freiburg/ Breisgau versuchen unter anderem herauszufinden, wie ein bestimmter Naturraum nachhaltig vom Menschen genutzt werden kann. „Nachhaltig“ meint das Gegenteil von Ausbeutung oder Verwahrlosung: Es bedeutet, herauszufinden, was ein bestimmter Naturraum bietet, damit Menschen dort etwas erwirt­schaften und dort wohnen bleiben können – gerade potentielle oder tatsächliche Abwanderungsgebiete sind hier im Blick. Zur Tagung am Johannes-Künzig-Institut referierte Konold nun über „Reiseeindrücke“ aus ausgewählten Gegenden Sloweniens, Kroatiens und Serbiens, insbesondere Areale in der gemischt-ethnisch bewohnten, autonomen Region Vojwodina. Werner Konolds Gruppe hat auch zuvor bereits einen umfangreichen Forschungsband zur Region „Motzenland“ in Siebenbürgen/ Transsylvanien vorgelegt, zusammen mit rumänischen Wissenschaftlern und unter Beiziehung ganz klassischer ethnografischer Arbeiten über das Gebiet.5 Eine weitere Forschungsarbeit aus der Mitarbeiter/-innen-Gruppe Konolds hat zudem in den Ostkarpaten die Gegend von Gyimes untersucht.6 Es geht hier um die kontinuierliche Interaktion von Mensch und Natur über Jahrhunderte hinweg, über Jahrhunderte gewachsener Kulturlandschaften.
Das Thema eines fulminanten Vortrags von Irmgard Sedler war das „Naherholungsgebiet im ’Jungen Wald’“ bei Sibiu/ Hermannstadt, das sich hin zum „Freilichtmuseum Bäuerlicher Technik“ (ASTRA-Freilichtmuseum) entwickelt hat, war. Sie konnte wie keine andere auth­entisch über die Konzeption, Entwicklung und Darbietung der Landschaftskultur dort zu berichten, insbesondere über die Konzeption des „Jungen Waldes“ als ein Ergebnis geplanter bürgerlicher Landschaftsnutzung. konnte ein Vortrag „Schwarzmeerstrand und Akazienalleen – Naturraum und Identität der Dobrudschadeutschen“ von Susanne Clauss (JKI) die über die Massenmedien als Wahrzeichen bekannt gemachten, die weit ausladenden Sonnenblumen- und Mohnblumenfelder sowie über die Bestände der Akazienbäume (genauer gesagt, der Robinie, einer sogenannten „Scheinakazie“) berichten. Sie wirken zentral in der Prägung der Landschaft und im Bewußtsein der Bewohner. Die Dobrudscha war seit dem 19. Jahrhundert bis in die 1940er Jahre durch eine multi-ethnische Besiedlung gekennzeichnet, aus Rumänen, Bulgaren, Griechen, Türken, Roma, Lipowaren, Tartaren und den Nachfahren von Deutschen, die ab 1840/41 als Kolonisten aus dem russischen Zarenreich hierher zum Donaudelta gekommen waren.
Ähnlich gelagert war das Thema von Leni Perencevic: Landschaftsbeschreibungen als Erinnerungsbilder und literarische Chiffren für ‚Heimat’ – das in Erinnerungen geprägte Bild von Natur, das untrennbar an Herkunftsheimat gebunden bleibt. Perencevic zeigte in diesem Zusammenhang, dass sehr viele Heimatbücher der vertriebenen Deutschen aus dem ehemaligen Jugoslawien Landschaftsbeschreibungen am Anfang stehen haben. Über beschriebene und fotografierte Natur- und Kulturlandschaften, so Perencevic, spiegeln sich donauschwäbische Geschichtsbilder sowie Selbst- und Fremdwahrnehmung wider.7 Insbesondere die Donau mit ihren Ufern hält hier die Bezeichnung des „Schicksalsstroms“ der deutschsprachigen Minderheiten in Südosteuropa.
Ein zweiter Schwerpunkt der Tagung ist damit schon angerissen: Der Donaustrom als Kristallisationsphänomen, der Fluß, der im Schwarzwald beginnt, der Mitteleuropa durch­zieht und sich ins Schwarze Meer ergießt, der Fluß, der an Berninis bekanntem Vier-Ströme-Brunnen in Rom den Erdteil Europa vertritt, der Fluss, den Attila Jószef mit der Mutter ver­glichen hat („A Duna csak folyt. És mint a termékeny, másra gondoló anyának ölén …“), den Friedrich Hölderlin als ,melodischen Strom’ gefeiert hat, an dessen Ufern die verschiedensten Völker Europas sich begegneten und begegnen.
Die Donau war der natürlicher Transportweg für Auswanderung und Einwanderung in die Regionen des Karpatenbeckens bis nach Bessarabien und bis hin zum Kaukasus. Deshalb wurde auch ein Lokaltermin zu den Quellen der Donau im Schwarzwald als ein wichtiger Bestandteil mit Erläuterungen zur historischen Auswanderung aus Südwestdeutschland ins Tagungsprogramm aufgenommen.
Eine mindestens ebenso wichtige Ergänzung bot jedoch Róbert Keményfi von der Universität Debrecen: Für und in Ungarn spielte gerade im frühen 20. Jahrhundert das geo­graphische Konzept vom Karpatenbecken als einem pannonischen Zweistromland eine wichtige Rolle. Keményfis Vortrag war deshalb eine Auseinandersetzung mit diesem Konzept unter dem Titel „Die natürliche Grundlage der ungarischen ‚kulturellen Wirkkraft’ – die Idee vom ungarischen Mesopotamien“.
Einen dritten Schwerpunkt bildeten Probleme der Kulturanthropologie und Volkskunde der Religion. Den Umgang und die Bedrohungen des Menschen mit und durch Naturbedingungen, Natureinwirkungen und Naturkatastophen zeigen in klassischer Weise Votivbilder. Gábor Barna widmete sich gerade diesen besonders aussagekräftigen Zeugnissen und behandelte sie „Quellen für Natursymbolik“ – mit einem Schwerpunkt auf dem Wallfahrtsort Mária Radna.
Die didaktische Wirkungsabsicht von hingegen ästhetischen, idealen Naturvorstellungen über ein auch in Ungarn populäres deutschsprachiges „Volksbuch“ stellte Krisztina Frauhammer vor: Sie hatte Martin von Cochems Volksbuch „Das Grosse Leben Christi“ zu Ihrem Thema gemacht. In dem Buch, 1686 erstmals gedruckt erschienen, zahlreiche Neuauflagen dann bis ins 20. Jahrhundert hinein, wurde auch die Natur-Umgebung der einzelnen biblischen Ereignisse sehr genau vorgestellt. Dazu hat Cochem Reiseberichte verwendet, um auch die Landschaftsgestalt biblischer Szenen so lebensecht wie möglich den Menschen in Mitteleuropa nahezubringen. Der Unterzeichende konnte selbst auf die umfangreiche Sammlung an „Praesepe“-Dokumentationen, Darstellungen des Heiligen Landes als Bethlehem-Krippen, im Johannes-Künzig-Institut verweisen.
Als ein Heiliges Land, oder, um in der Quellensprache präziser zu sein, als einen „Bergungsort“ betrachteten württembergische pietistische Auswanderer des frühen 19. Jahrhunderts auch die Süd-Kaukasusregion unter dem Berg Ararat. Der Berg Ararat als ein Wahrzeichen der physischen Naturwelt und biblischer Landungspunkt der Arche Noah aus der religiösen Glaubenswelt war der Ankerpunkt zum Ende der Tagung. Die beiden Vorträge von Annemarie Röder – mit Ihrem Vortrag „Ararat – die Sehnsucht nach dem Bergungsort. Schwäbische Auswanderung unter den Kaukasus“ – und Ketevan Sebiskveradze – mit Ihrem Vortrag „Kulturtradierung von ‚Schwaben’ in Südkaukasien“ stellten das noch wenig erforschte Thema aus deutscher und georgischer Sicht einem interessierten Publikum vor.
Naturwahrzeichen können also Kristallisationsphänomene sein, die angestrahlt werden und zugleich abstrahlen, Kristallisationsphänomene, die Idealbilder projizieren und spiegeln, und die zugleich furchterregende Erhabenheit und Schrecknis bedeuten können. Dies gilt genauso für das Wasser des Flusses und Meeres wie etwa für schneebedeckte, lichtgleißende Berggipfel – symbolische Funktionen mit durchaus unterschiedlicher Verheißung sollten und konnten konkret gezeigt und erläutert werden.