péntek, december 27, 2024

Tötszegi, Tekla–Pávai, István: Zene, Tánc, Hagyomány. Dennis Galloway Romániai Fotói. 1926–1932 – Muzică, Joc, Tradiţie. Fotografii Executate în România de Denis Galloway. 1926–1932 – Music, Dance, Tradition. Dennis Galloway’s Romanian Photographs. 1926–1932

Budapest–Cluj-Napoca: 2010, 152 S. ISBN 978-963-7363-56-6
Cuisenier, Jean: Das Gedächtnis der Karpaten. Rumänien und sein kulturelles Erbe: Innen- und Außenansichten. Übersetzt von Klaus Freckmann, mit Beiträgen von Klaus Freckmann, Bärbel Kerkhoff-Hader, Martin Rill, Burghart Schmidt. Marburg: Jonas 2008, 400 S. /Schriftenreihe zur Dendrochronologie und Bauforschung, Band 6./ ISBN: 978-3-89445-394-7

Die Herausgeber der hier neu vorliegenden Werkschau des Volkskundlers und Fotografen Dennis Galloway, Tötszegi und Pávai, haben ihr ein Motto von Roland Barthes vorangestellt: „In Photography I can never deny that the thing has been there. There is a superimposition here: of reality and the past” (s. S. 2; im Original bei Barthes 1980: “dans la Photographie, je ne puis jamais nier que la chose a été là. Il y a double position conjointe: la réalité et de passé”) – eine Charakteristik der Fotografie bestehe also darin, dass Realität und Vergan­genheit zugleich anwesend seien.
Obschon in dem ebenfalls angezeigten Buch von Jean Cuisenier ein expliziter Hinweis auf Barthes fehlt, haben fotografische Bilder auch hier genau diesen zur Beleg-Funktion einer Wirklichkeit und Vergangenheit gemachten Charakter. Der in die deutschsprachige Übersetzung einführende Begleitbeitrag von Bärbel Kerkhoff-Hader (Der Forscher und sein Feld. Jean Cuisenier und das Leben in den Karpaten, S. 381–397) würdigt deshalb die Arbeit als umfassende Leistung der Foto-Anthropologie, in der Aufnahme Situationen selektierend, als Foto verselbständigt zur archivierten Zeit (S. 387–388).
Zwischen 1971 und 1991 konnte Jean Cuisenier, Ethnologe, Kulturanthropologe und ehemaliger Leiter des Musée des Arts et Traditions Populaires in Paris, mehrere Forschungs­besuche und Dokumentationen in Rumänien vornehmen. Konkret präsentiert er Erhebungen aus den Regionen Maramuresch (insbes. S. 35–141), Bukowina mit der nördlichen Moldau-Gegend (S. 227–303), Oltenien (S. 142–226), sowie kurze Skizzierungen aus der Stadt Bukarest (insbes. S. 18–24). Eine inhaltliche Stärke des Buches liegt zweifellos darin, dass der Verfasser die Situation im Land während der Ceaucescu-Zeit und unmittelbar danach betrachten konnte. Das Anliegen von Cuiseniers umfangreicher Studie besteht, Inhalte und Formen des ‚Gedächtnis‘ (im französischen Original heißt es im Titel ‚Mémoire’, zugleich Gedächtnis und jeweilige Aktualisierungen des Gedächtnisarsenals, also Erinnerung), an ausgewählten Feldern und auch unter den verschiedenen Anforderungen und Zumutungen wechselnder politischer Systeme in der rumänischen Karpatenregion darzustellen. Die Darstellung erfolgt von Anfang in einem dezidierten Erzählton. Die narrative Grundstruktur auch in der Präsentation von Ergebnissen macht sich insbesondere auch daran fest, dass Cuisenier Personen und Gestalten vorstellt und schildert, die ihm Geschichten erzählen, die ihm Verse und Lieder vortragen, und sichtbar vor ihm und seiner Fotokamera Traditionshandlungen praktizieren, Traditionshandlungen, die er als Erbschaft „tausendjähriger“, jedenfalls in langer Generation­enkette sedimentierter Inhalte den Lesern zugänglich machen möchte. Das ist vielleicht als Anspielung auf den geschichtswissenschaftlichen Begriff der longue durée der Historiker Braudel, Le Goff, Favre gedacht, sicher aber in einem anthropologischen Sinne, als je aktualisierte Auseinandersetzung von Menschen mit einer je und je so und so gegebenen Umwelt. Cuisenier zeigt Fotos als Belege, dass im Ceaucescu-Sozialismus, also einer atheistischen und neue, andere Riten oktroyierenden, nun aber vergangenen Staatsauffassung christlich und überhaupt religiös bestimmte Handlungen und Geschichten unter Laien existent geblieben sind. Die Bilder erwecken zuweilen den scheinbaren Eindruck von Schnappschüssen – was sie selbstredend nicht sind, sondern eben gewollt kompositorische Zeugnisse; Zeugnisse von realen Menschen, die mit irgendetwas umgehen, sei es Arbeitsgerät, sei es Hauseinrichtung, sei es Kleidung, seien es Ritualrequisiten u.a.m. (vgl. zur dokumentieren bäuerlichen Architektur auch S. 343–379 den Begleitbeitrag von Klaus Freckmann/ Burghart Schmidt, Auf den Spuren Cuiseniers – architektonische Eindrücke im Banat, in Transsilvanien und in den Maramureş). Als dem Rezensenten besonders auffallende Phänomene seien beispielsweise angeführt die einzigartigen Grabkreuze von Săpinţa mit dem Schnitzer Stan Pătraş (Bild S. 137) oder die „Leichenfeiern“ in Dobriƫa“ (bes. Abb. Chor der Morgenröte, S. 218). Und Cuiseniers Fotos enthalten Empathie – die Empathie des Autors. Vergegenständlichung, Verkörperung und Gestalt des „Gedächtnisses“ der Karpaten sind in der Studie demnach sowohl Verfahren und institutionalisierte, expressive Handlungsformen als auch (vor allem) ausgesuchte laikale Personen als Kulturwesen, „Hüter der Bräuche“, wie er sie einmal beschreibt (S. 178), und wie er sie eben auch fotografisch aufgenommen hat, portraitierend abbildet: ihr fotografisch reproduziertes Bild vermittelt den Lesern die Gewähr ihrer Existenz und somit die Gewähr der Authentizität des Erzählten. Diese Personen werden deshalb nicht anonymisiert, sondern namentlich hervorgehoben und in biographischen Versatzstücken gewürdigt – sie sind damit nicht nur „Gewährsleute“, sondern eben die im Moment der Aufnahme aktuelle Verkörperung des „Gedächtnisses der Karpaten“.
Im Text sind immer wieder auch Autoritäten der Kulturgeschichte eingeflochten: von Homer, Thukydides und Hesiod über Macchiavelli, über Chopin, Dvořák, Kodály und Bartok (weil [Volks-]Tänze als Bestandteil der „Memoire“ aufgefasst werden, S. 63–67), hin zu prominenten Sprachwissenschaftlern, Mythos- und Erzählforschern wie Propp und Eliade und bis hin auch zu Bram Stoker („Dracula“ – Vlad Tepeş) führt die Reihe der Namen. Solche Referenzen dienen als Signale und Anspielungen der klassisch gewordenen, christlich und „westlich“ bestimmten Kultur Europas und deren gemeinsame Wurzeln, an die Cuisenier seine Untersuchungsregion anschließt und sie damit verbindet (s. insbes. in seiner Conclusio, S. 304–306).
Ernő Kunt, ein prominent gewordener volkskundlicher Dokumentarfotograf, hat einmal geschrieben, er sei „bestrebt, nur das notwendigste festzuhalten, jedoch aber echte Bilder, also Augenerlebnisse anzubieten“. Genau den Eindruck dieses Versuchs hat man auch bei vielen Fotografien von Cuisenier, selbst wenn sie lange nicht so stark elaboriert sind wie diejenigen von Kunt. In besonderem Maße aber gilt der Satz für das Bilder-Werk von Dennis Galloway. Der Fotograf Dennis Galloway wurde 1878 in Cardiff/ Wales geboren. Eigentlich war er Ingenieur von Beruf. Mit 26 Jahren besuchte er die Londoner ‚Slade School of Fine Art’. Diese Prägung wurde wichtig für die Motivstellungen auf seinen Bildern und die Art seiner Fotografie. Mehrere Reisen hatten ihn nach den Niederlanden, Italien, Russland verschiedenen Regionen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie geführt. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte er sich einer internationalen Künstlergruppe in den Niederlanden angeschlossen. Hier lernte er auch den aus Siebenbürgen stammenden, ungarischen Maler Móricz Góth kennen. Aus dieser Bekanntschaft war dann wahrscheinlich die Einladung nach Trans­syl­vanien gekommen, die Galloway 1925 wahrnahm. In der Folge lebte Galloway mit mehreren Unterbrechungen in Rumänien und arbeitete bis 1950 unter anderem am Transsylvanischen Ethnografischen Museum. Galloway verstarb 1957, nachdem er vier Jahre zuvor nach Wales zurückgekehrt war (seinen Nachlass hatte er dort der Britisch Folklore Society dediziert). All diese Angaben stammen aus dem hier anzuzeigenden, von Tekla Tötszegi und István Pávai besorgten, oben bibliografisch eingeführten Buch über Dennis Galloways Romániai Fotói, 1926–1932/ Fotografii Executate în România 1926-1932. Es basiert auf einer Ausstellung, die sowohl im ethnografischen Museum Transsylvaniens in Cluj wie auch im Hagyományok Háza von Budapest gezeigt wurde. Der kommentierende Text wurde, was sehr verdienstvoll ist, dreisprachig erarbeitet, in Ungarisch, Rumänisch und zudem noch Englisch. Im Buch von Tötszegi–Pávai finden sich Aufnahmen Galloways aus den Regionen Kalotaszeg (S. 20–67), der Gegend von Huedin/ Bánffyhunyad, (S. 68–75), aus dem Nösnerland (Gegend von Bistriƫa, S. 77–87), ƫinutul Pădurenilor/ Erdőhátság (S. 88–109), Haƫeg/Hátszeg (S. 110–133), Oaş/ Avas (S. 134–141) und aus den Wohngebieten der Hutsulen (S. 142–150) ausgewählt. Heute sind sie der Beleg einer so, auf diese Art, verschwundenen Welt.
Was die Fotos von Galloway zum Vorschein bringen, ist eigentlich Kunst, mehr noch als es Ernő Kunt gesagt hat, es ist etwas auch als Kunst gemeintes, und dies in doppelter Weise: Einmal sind die hier vorgeführten fotografischen Bilder selbst Kunst, indem sie nach bestimmten, dem Auge gefälligen Proportionen arrangiert, komponiert und mit blickanziehenden Schwerpunkten versehen wurden. Zum zweiten aber stellen sie Kunst dar. Die Motive (also das, ‚was auf dem Bild drauf ist‘, Dinge wie Festkleider, Instrumente, Ritualrequisiten – Handlungen wie Begräbnisse, Hochzeiten, Hora-Tänze) werden mehrfach deiktisch als Kunstwerke zu erkennen gegeben, als Kunstwerke insinuiert. Herausragende Beispiele wären die in Anmut und Würde eingefangenen Hochzeitsbilder (s. etwa S. S. 43, 46, 50, 53, 61, 73, 79, 80, 82, 131, 132), insbesondere der „Hochzeitszug im Winter“ im Schneegestöber der Berglandschaft von Lunca Cernii de Sus/ Felsőnyiresfalva (Südkarpaten – das Motiv als solches war bereits durch Artur Hazelius aus Schweden in den volkskundlich-ästhetischen Diskurs eingeführt worden war und am karpatischen Beispiel eine ganz eigene, fast abenteuerliche Volte bekommen hat (s. S. 129). Weitere wichtige Bild-Zeugnisse zeigen, wiederum aus Lunca Cernii de Sus, die Sternsinger aus der Zeit 1930/31. Besonders häufig werden Tanz-Szenen mit den dabei verwendeten, teilweise historischen Musikinstrumenten und den dabei getragenen Festtagskleidern dargeboten (passim).
Beide Bücher bieten Gelegenheit, Walter Hartingers methodische Handreichungen zum Volkskundlichen Umgang mit Bildquellen von 2001 einmal durchzudeklinieren. Aber noch einmal sei gesagt: Beide Bücher sind mitnichten reine Bildbände. Die Kommentare von Tötszegi–Pávai geben Einblick vor allem in die musikalische „Folklore“ und führen die Ästimierung mit Anspielungen im Sinne Béla Bartóks fort. Cuiseniers Werk liegen jahrzehntelange Erfahrungen in Feldsituationen und in einschlägiger Lektüre zugrunde – denn erst nach solcherart Erfahrung kann wie hier locker unsystematisch und doch ausgesucht inhaltlich gewichtet werden. Wer es in französischer Sprache lesen möchte, sei verwiesen auf die im Jahr 2000 bei Plon (Paris) erschienene Originalausgabe Mémoire des Carpathes. La Roumanie millénaire: un regard intérieur. Ein lohnendes Buch sowohl für Leser, die an der die Region interessiert sind, aber auch in dezidiert europäischer Perspektive Bildung erwerben möchten. Und es ist, wie Kerkhoff-Hader sagt, ein Archiv – denn, wer weiß, vielleicht enthält das Buch dokumentierte Elemente einer Welt, die wohl der Ceaucescu-Staat nicht zum Verschwinden zu bringen vermochte, die jedoch nunmehr, seit dem Einzug der westlichen Marktwirtschaft, anderen Bedingungen ausgesetzt ist, von denen jetzt kaum jemand sagen kann, wie sie sich auf längere Sicht auswirken werden.
Die Aufnahmen von Galloway hingegen gehören nun sicher einer abgeschlossenen Vergangenheit an. Sie korrespondieren teilweise deutlich mit dem im Jahr 1934 spielenden, schönen Reise-Roman von Patrick Leigh Fermor, Zwischen Wäldern und Wasser [„Between the Woods and the Water“, erschienen englisch 1986, auf Deutsch neu bei Dörlemann/ Zürich 20069, in dem der junge Fermor sich selbst auf seiner Reise durch die rumänischen Karpaten beschreibt. Auf jeden Fall kann und sollte man beide angezeigten Bücher zusammen lesen, weil sie auf ganz hervorragende Weise zwei diversifizierte Grundeinstellungen, zwei Auffassungen von Ethnografie vermitteln, vertreten und präsentieren: eine primär dokumentarisch-funktional ausgerichtete und eine primär ästhetisch ausgerichtete.